„Ich bin kein guter Hunde-Erzieher”: Interview mit Architekt und Star-Designer Piero Lissoni

Piero Lissoni ist Minimalist. Aber einer, der dem Drang widersteht, seine Möbel, Hotels, Yachten zu frostig-kalten Objekten zu stilisieren, deren scharfe Linien den Mensch zum Eindringling geißeln. Nein, Lissoni gelingt es, genau die richtige Portion einer sophisticated Gemütlichkeit einzuarbeiten, so dass seine Werke sich in ein Penthouse in Rio ebenso einfügen, wie in eine Altbauwohnung in Kreuzberg.

 

Der 55-Jährige hat mit nahezu allen großen Marken gearbeitet: Boffi, Molteni, Alessi, Cassina, Flos, Fritz Hansen, Poltrona Frau und Living Divani. Die dekorativen „Früchte” aus letzterer vieljähriger Zusammenarbeit waren jetzt in den Neuen Werkstätten in München zu sehen – und Nahtlos! bekam die seltene Gelegenheit eines ausgedehnten Plausches mit dem Architekten und Star-Designer. Unter den Themen: Wie gefährlich schlechte Architektur sein kann, welches Restaurant in Tokio Lissonis Gaumen betört und was ihn an der Globalisierungs-Diskussion so immens stört. Viel Vergnügen!

 

Piero Lissoni, bei der Eröffnung der Schau ihrer Werke für Living Divani in den Neuen Werkstätten wurden Sie als renaissance man bezeichnet, eine Art kreativer Tausendsassa, der vielerlei Professionen nachgeht.

 

Ich würde mich nicht wirklich als renaissance man bezeichnen, schließlich leben wir im 21. Jahrhundert. Der Begriff meint ja vor allem, dass man Humanist sein muss. Also auf diversen, verschiedenen Gebieten gebildet: Beispielsweise als Ingenieur, Architekt, Dekorateur, Fotograf und Dichter. Für mich ist Multitasking ein passenderer und moderner Begriff für dieses Konzept. Ich bin ein totales Mac-„Opfer”. Ich erinnere mich noch genau, als wir für unser Design-Studio 1986 die ersten Apple-Computer kauften. Es war ein klobiger großer Klotz – damals aber ein absolutes Highend-Gerät. Keine Ahnung, wie viele Jahre wir den abbezahlt haben. Jedenfalls hat diese Anschaffung meinem Drang zum Multitasking geradezu Flügel verliehen.

 

Was entgegnen Sie Kritikern, die Multitasking als Mythos bezeichnen. Viele Experten sagen, es gäbe das Gleichzeitig-Machen gar nicht, wir könnten eigentlich nur eine Sache zur Zeit konzentriert und effektiv erledigen.

 

Ich glaube, das ist eine logische evolutionäre Entwicklung gewesen. Zuerst gab es hochspezialisierte Tiere, die alle ein besonders ausgeprägtes Talent hatten. Sie konnten besonders gut von Ast zu Ast springen oder Ameisen aus einem Insektenbau herauswühlen oder gewannen mit ihrem Geweih jedes Duell. Dann wurde es nötig, mehrere Fähigkeiten zu entwickeln, um voranzukommen. Multitasking war also früher möglich – und ist es auch jetzt.

 

Unterhalten Sie sich doch mal mit Chris Bangle, dem Leiter des Designteams der BMW-Gruppe. Er arbeitet jeden Tag gleichzeitig an Karosserie-Formen, an neuester Technologie, an Produktionswegen, schaut auf die Kosten, denkt ans Marken-Image, an die spätere Kommunikation eines neuen Modells. Er designt nicht bloß die „Haut” und überlässt es anderen, sie zu füllen.

 

Deshalb bin ich von manchen meiner Kollegen auch so enttäuscht. Die zeichnen eine hübsche Form aufs Papier und sagen dann „Hier, und jetzt kümmere sich bitte jemand um die weiteren Details.” So entsteht Ästhetik, die völlig losgelöst ist von der gewünschten Funktion, von der Realität. Ich arbeite völlig entgegengesetzt.

 

Was war das schlechteste Design, das Sie je sehen mussten?

 

Oh, da gibt es eine Menge. Leider. Und manches bereitet mir fast physische Schmerzen. Für mich gibt es allerdings einen Unterschied zwischen nicht gelungenem Produktdesign und mieser Architektur. Wenn ein Designer ein grässliches Sofa entwirft, hat der Kunde die Möglichkeit, es nicht zu kaufen, im Geschäft stehen zu lassen. Ja, für die Herstellerfirma ist das ein Risiko, ein misslungenes Sofa könnte jemanden den Job kosten. Dennoch richtet der Designer keinen allzu großen Schaden an. Anders verhält es sich bei Architektur, denn wer ein scheußliches, dysfunktionales Gebäude entwirft, der ist wirklich gefährlich. Sehr! Ein Bauprojekt muss in meinen Augen daher möglichst vielen Leuten gefallen, sonst werden alle, die es abstößt, quasi zu Opfern.

Für die publicity sind laute, grelle, bizarre Möbel und Bauten aber ein guter Katalysator, oder?

Ich würde nie etwas entwerfen, bloß um damit in die Presse, auf Magazintitel zu kommen. Ich bin doch nicht dafür da, um Journalisten mit meiner Arbeit zu unterhalten. Ich entwerfe für Fabriken, für Inneneinrichter wie die Neuen Werkstätten. Meine Produkte sind Teil eines vielschichtigen Systems und ich muss an alle Räder dieses Systems denken. Möbel kann man einfach nicht designen wie Mode, und wenn etwas nichts taugt, kommt halt in sechs Monaten die nächste Kollektion. Wo bleibt da die Verbindung zum Kunden, was ist mit dem Gedanken von Nachhaltigkeit?

 

Nein, es geht definitiv nicht um mich, um mein hübsches Gesicht in Zeitschriften, in TV-Sendungen. Es geht um Verantwortung für das, was man kreiert.

 

Piero Lissoni Living Divani Neue Werkstaetten München
Die Werkschau „less is design” zeigte in den Neuen Werkstätten Objekte von Piero Lissoni für Living Divani; Foto: Hannes Magerstaedt

 

Was wollten Sie als Kind werden?

 

Architekt. Mich haben Feuerwehrmann, Arzt oder Rennfahrer nie gereizt. Ich wollte immer bauen. Obwohl … Nein, das ist nicht ganz korrekt. Mein zweitgrößer Wunsch war es, Ski-Lehrer zu werden. Ich sage auch gern, dass Skifahren mein eigentlicher Beruf ist und Architektur und Design nur mein Hobby.

 

Haben Sie noch andere Hobbys, von denen wir wissen sollten?

 

Das Leben. Ein ziemlich großartiges Hobby, oder?! Ich liebe es.

 

Sie haben Projekte auf der ganzen Welt realisiert: in Japan, in Jerusalem, in New York, Dubai und Dallas. War ein Ort darunter, wo Sie es auch länger aushalten könnten?

 

Ich halte mich gern in normalen Gegenden der Welt auf, Manhattan, Frankfurt, Tel Aviv. Normal, das klingt seltsam, ich weiß. Ein Gegenbeispiel: Ich habe eine Reihe sehr schöner Gebäude auf den Turks & Caicos Islands gebaut. Ein wahres Paradies auf Erden. Als Urlauber. Fährt man allerdings dorthin, um, wie wir, dort etwas zu bauen, ist es die Hölle. Vor allem logistisch. Sie sind ganz weit weg von allem, alle Probleme müssen vor Ort gelöst werden – oder es heißt monatelang warten. Nach drei Monaten kam dann ein Hurrikan und hat unsere LKWs und Zementsilos mitten ins Meer geschleudert. In einer Nacht war alle Arbeit vernichtet. Ein Desaster.

 

Und heute liegen dort schöne Menschen auf weißen Sonnenliegen, lassen sich von Poolboys in Armani-Uniformen Cocktails servieren und blicken auf das türkisfarbene Wasser. Ich mag solche Extreme nicht. Genaus verhält es sich mit Millionenprojekten für Reiche in eigentlich sehr armen Ländern.

 

Dagegen arbeite ich gern für und mit sozialen Organisationen an Projekten, die armen und kranken Menschen zugute kommen. Ihr Leben durch Architektur, die sie respektiert, verbessern. Wundervoll. Gerade arbeite ich mit meinem Team an einem Krankenhaus in Afrika, in Benin. Für den Bau wollen wir ausschließlich recyceltes Material verwenden, was es dort gibt.

 

Klingt nach einer Herausforderung!

 

Wo liegt der Sinn, wenn ich beispielsweise Ziegelsteine verwende, die vor Ort niemand einsetzt, weil es keine Ziegelfabrik gibt? Wir wollen uns ganz auf die Location einlassen, auf landestypische Architekturprinzipien – und ohne das schlechte Gewissen von Europäern im Hinterkopf. Ich bin gern völlig ehrlich und pragmatisch.

 

Sind Sie ein Fan, guter Küche, sammeln Sie Restaurant-Tipps rund um den Globus?

 

Oh ja! Ich liebe dieses kleine Restaurant in Tokio, das vielleicht 20 Quadratmeter Fläche hat. Der Koch war Sous-Chef für Joël Robuchon in Paris. Er bereitet die klassischen japanischen Gerichte mit französische Kochtechnik zu. Unglaubliches Sashimi. Und Sushi, eine Sekunde lang angebraten. Bevor Sie fragen: Ich verrate nicht wo es ist. Man kommt eh nur als Freund des Koches rein. Oder als Freund eines Freundes. Ein wenig wie in einem Dinner-Club.

 

In New York mag ich das Baltazar, den Spice Market und die Kitchen des Mercer. Und dann das Delikatessen in der Elizabeth Street. Die besten Mini-Bürger, die ich je gegessen habe. Und das inmitten von wunderschönen jungen Frauen und Männern. Wirklich, ich habe noch nie so viele so attraktive Menschen an einem Ort gesehen. Wissen Sie, ich habe sehr viel übrig für Frauen …

 

In Mailand esse ich immer in einem kleinen Restaurant, wo man mich gut kennt und auch mal ein Gericht für mich kocht, das nicht auf der Karte steht. Was die neuen Hotspots in der Stadt sind? Ich habe keine Ahnung. Ich habe irgendwann aufgehört, mich auf meinen Reisen davon beeinflussen und unter Druck setzen zu lassen, was gerade hip und cool und neu und angesagt ist. Mir ist wichtiger, in jeder Stadt eine Handvoll Restaurants und Bars und Hotels zu wissen, die ich mag und denen ich vertrauen kann. Das reicht vollkommen.

 

Piero Lissoni Living Divani Neue Werkstaetten München
Die Werkschau „less is design” zeigte in den Neuen Werkstätten Objekte von Piero Lissoni für Living Divani; Foto: Hannes Magerstaedt

 

Ich habe gelesen, Sie haben Hunde.

 

Ja, drei Golden Retriever: Sofia, Summertime und Satisfaction. Die kommen auch mit ins Büro – und schlafen, gelegentlich, auch in meinem Bett. Das läuft dann so ab: Erst kommt ein Hund. Dann der zweite. Dann sind alle drei im Bett und ich habe keinen Platz mehr. Also ziehe ich um aufs Sofa.

 

Die drei brauchen schließlich ihren Schönheitsschlaf.

 

Genau. Dann folgt mir aber erst der eine Hund aufs Sofa. Dann der zweite. Dann der dritte – und ich ziehe wieder um zurück ins Bett. Das geht manchmal die ganze Nacht so und morgens wache ich wie gerädert auf. Aber ich liebe es trotzdem, mit Hunden zu leben, das sind ganz fantastische Geschöpfe.

 

Wir wünschen uns auch ganz dringlich einen Hund. Aber es ist so schwierig, wenn man oft unterwegs ist. Man lässt sie allein, fühlt sich schlecht und mit Hunden reisen, vor allem im Flugzeug, das finde ich grausam.

 

Nein, nein. Man muss sein Leben sehr gut organisieren. Ich habe einen dogsitter oder mein Sohn springt mal ein, wenn ich im Ausland bin.

 

Würden Sie jemals eine Hunde-Kollektion entwerfen? Vielleicht Designer-Hundebetten?

 

Nicht für meine Hunde, die springen lieber mein Sofa. Das übrigens von mir ist – und jetzt ihnen gehört. Irgendwie. Falls Sie es jetzt noch nicht gemerkt haben, ich bin kein besonders guter Hunde-Erzieher …

 

Sie erwähnten, dass Sie recht früh Computer in Ihrem Studio eingesetzt haben. Momentan kann man sich dem wahnwitzig schnellen Technologie-Fortschirtt kaum mehr entziehen. Facebook, Twitter … Nutzen Sie diese neuen Möglichkeiten zu kommunizieren?

 

Nichts. Außerhalb der Arbeit schalte ich nicht einmal einen Computer an, und selbst dort skizziere ich meine Entwürfe zunächst mit der Hand. Nur das iPad habe ich mir gekauft. Nein, ich habe weder Twitter benutzt noch Facebook – und habe das auch nicht vor. Ich hasse es. Und fühle mich langsam ein wenig wie der letzte Indianer in der Prärie.

 

Wie wir in der Ausstellung ihrer Möbel und Dekorationsobjekte für Living Divani sehen können, kommen Sie bestens ohne diese neuen tools klar.

 

Stimmt. Ich habe kürzlich ein Buch über Mark Zuckerberg gelesen und ich verstehe die Kreativität, die hinter seiner Idee, hinter Facebook steckt. Er ist ein wirklicher Visionär, genial. Das Dumme für mich und für ihn ist bloß, dass ich nicht die Mehrheit der Welt bin und es mich einfach nicht interessiert. Und die ganze Diskussion um die Globalisierung, die langweilt mich zu Tode. Um wirklich globalisiert zu sein, im humanistischen Sinne, müssten wir wissen, was Miso-Suppe ist, das Stammessystem in Afrika verstehen, Tagliatelle mit Ragout kochen können und verfolgen, wohin Angela Merkel Deutschland lenkt.

 

Das ist wahre Globalisierung, das menschliche Erleben weltweit aufnehmen, neugierig sein. Nicht per Facebook quer über alle Kontinente zu chatten. Das ist oberflächliche Globalisierung nach Yankee-Art, ein fake. Die Menschen unterhalten sich auf Facebook eigentlich über nichts und niemanden. Und keiner loggt sich dort ein, um etwas über Schiller, Goethe oder Dante zu lernen. Über Dumas, Petrarca, über Paul Klee, Pablo Picasso, Rembrand.

 

Am Fall Ägypten kann man doch aber sehen, welche – im Wortsinn – revolutionäre Energie das so genannte social web freisetzen kann. Vielleicht haben wir das wahre Potenzial dieser Plattformen noch nicht entdeckt, noch nicht ausgereizt. Alles Neue startet doch auf der Oberfläche, richtig?

 

Kann gut sein. Mich verstört es aber schon, dass Facebook derzeit auf rund 50 Milliarden Dollar geschätzt wird, während Rio Tinto, das größte Stahl-Konglomerat der Welt, das gut 65 Prozent unseres Stahls bewegt, mit gerade mal 3 Milliarden Dollar bewertet ist. Ein anderes Beispiel ist Yahoo. Vor Jahren noch die angebliche Zukunft und hoch im Kurs. Jetzt kann man die company mit Spielchips kaufen.

 

Ja, es kann sein, das Facebook irgendwann wird wie Microsoft. Vielleicht. Ein Fan werde ich aber nicht mehr. War ich auch von Microsoft noch nie.

HÖRTIPP:
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Veröffentlicht von

Siems Luckwaldt

Siems Luckwaldt ist seit über 20 Jahren als Journalist und Redakteur tätig. Seine Themen: Interviews, Mode, Lifestyle, Uhren, Modernes Leben. Weitere Angebote: Corporate Publishing, Social Media Storytelling, Podcasts, Coaching